Manche Berufszweige legen ihre Arbeitsprozesse und Praktiken offener als andere und das Musikgeschäft neigt dazu, die Fans im Dunkeln tappen zu lassen. Dies geschieht oft mit den besten Absichten: die Fans sollen sorglos die Musik genießen, anstatt sich Gedanken über die Mühe zu machen, die in ihre Produktion geflossen ist. Aber nicht alle Fans wissen dies zu schätzen, ja die Geheimniskrämerei führt oft zu Klatsch, Gerüchten und Fehlinformationen.
Im Fall der japanischen Musikindustrie kann es aufgrund der Sprachbarriere schwer sein, kulturelle Unterschiede und komplizierte Details der Szene zu verstehen. Obwohl sich weite Teile der japanischen Musikindustrie bewusst sind, dass auch im Ausland Interesse besteht, konzentriert man sich hauptsächlich auf japanische Fans. Das ist bei Visual Kei nicht anders. Ausländische Fans haben deshalb nur begrenzt Zugang zu genauen Informationen und zur "echten" Szene und können sich von ihrer Heimat aus nicht wirklich aktiv an der Szene beteiligen.
Die Verwirrung, die die Visual Kei-Szene umgibt, kann auf verschiedene Weise erklärt werden. Einer der Hauptgründe besteht darin, dass ausländische Fans, die noch nie in Japan waren, keine persönliche Erfahrung der dortigen Fanszene haben und ihr Eindruck daher auf Fotos, Videos und Hörensagen basiert. Dies kann ein falsches Bild vermitteln und eine Band viel größer erscheinen lassen, als sie wirklich ist, selbst wenn es sich dabei um eine "Majorband" handelt. Andere verlassen sich auf Klatschforen, Fancommunities und Fansites, auf denen es vor Fehlinformationen nur so wimmeln kann. Ohne persönliche Erfahrung kann die Vorstellung von der Visual Kei-Szene in Japan auf vielerlei Weise verzerrt sein, angefangen von dem Glauben, dass Visual Kei "Mainstream" ist, bis hin zu grundlegenderen Dingen, beispielsweise wie die Szene funktioniert und wie die Realität für viele Musiker aussieht.
Flasche Vorstellungen von der Beliebtheit von Visual Kei
In meiner Umfrage, die ich auf JaME durchgeführt habe, waren die Meinungen der Fans aus aller Welt darüber, ob Visual Kei ein Mainstream-Musikstil ist oder nicht, sehr geteilt. Nur 43% der Befragten glaubten, dass die Szene selbst in Japan Underground ist. Die japanische Presse hat von ihrer Popularität im Ausland berichtet,
1 aber diese Berichte wurden von japanischen Fans kritisiert und als übertrieben angesehen.
2 Sowohl Mainstream- als auch Indiemusik kann "populär" sein, aber es ist wichtig, den Unterschied zu verstehen.
"Im grundlegenden Sinn wird der Ausdruck "populär" oft dazu benutzt, Musik zu beschreiben, die in der Tat populär ist, womit gemeint ist, dass sie in großen Mengen konsumiert wird und eine breite Fangemeinde hat. Im Wesentlichen kann populäre Musik also einfach so genannt werden, da sie ein Massenartikel ist, der als solcher vertrieben und konsumiert wird. Populäre Musik kann jedoch auch aufgrund ihrer ästhetischen Qualitäten kategorisiert werden, selbst wenn die Künstler sich im herkömmlichen Sinn begrenzter Beliebtheit und Verkaufszahlen erfreuen."
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Es ist also nicht richtig, zu sagen, dass Visual Kei nicht "beliebt" ist; alle Nischenmärkte sind auf ihre eigene Weise populär. Aber Visual Kei als Mainstream zu bezeichnen, wäre ein grobe Übertreibung der gegenwärtigen Positionierung der Szene.
Die falschen Vorstellungen gehen jedoch viel tiefer als oberflächliche Angelegenheiten wie Beliebtheit und Größe der Fangemeinde. Viele Fans in aller Welt, Ausländer wie Japaner, wissen oft nicht, wie die geschäftliche Seite der Szene funktioniert, es sei denn sie arbeiten für eine der Szenefirmen oder sind mit Musikern befreundet. Die Realität ist ein unsanftes Erwachen, denn unter dem schönen Augenschein verbergen sich oft finanzielle und andere Probleme.
Fangemeinde und Hallengröße
Viele Fans haben falsche Vorstellungen von der Beliebtheit der Bands. Da die Musik und Websites vieler Bands heute leicht zugänglich sind, können Fans in aller Welt theoretisch Bands entdecken und ihre Aktivitäten verfolgen. Viele Fans sind sich jedoch nicht bewusst, dass einige Indie-Visual Kei-Bands in Wirklichkeit so kleine Fangemeinden haben, dass sie nicht einmal die erste Reihe in einer Konzerthalle füllen könnten, geschweige denn die gesamte Konzerthalle. Es ist auch wichitg, zu verstehen, dass einige Bands sich nicht einmal bewusst sind, dass ihre Musik ausländische Hörer erreicht hat. Dies ist besonders dann wahrscheinlich, wenn die Band zuhause nur eine kleine Fangemeinde hat.
Zum Thema der Besucherzahl sagte
Jimi Aoma, der ehemalige Bassist der Band
Chemical Pictures: "Bei Onemans ist das eine andere Sache, aber bei regulären Events erwischt man manchmal einfach einen unpassenden Tag oder spielt nicht mit der richtigen Art von Bands, und dann kommen vielleicht nur 30 oder 40 Leute. Zu den beliebteren Bands kommen über 60. Vor ein paar Jahren soll es nicht ungewöhnlich für eine Band gewesen sein, 100 Leute zusammen zu bekommen. Also herrscht nun eine Menge Frust in der Szene und man versucht beinahe verzweifelt, mehr Leute anzulocken. Ich denke, das war der Grund warum Bands für eine Weile so wild darauf waren, im Ausland zu spielen - weil es so schwer geworden ist, zuhause eine Halle zu füllen."
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Für manche Bands bedeuten selbst 30 oder 40 Fans ein erfolgreiches Konzert. Laut Polina Kogan, einer Pressebauftragten von JaME, die lange in Tokyo gelebt hat, bekommen Bands, die in Hallen wie Urawa Narciss, Ikebukuro Cyber oder den HOLIDAY-Hallen auftreten, oft weniger als zehn Fans pro Konzert zusammen. Nicht selten besuchte sie Konzerte, auf denen einige Bands nur drei oder vier Fans hatten.
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Da bereits schon die ursprüngliche Größe der Fangemeinde missverstanden wird, wird dann oft angenommen, dass "Major" gleichbedeutend mit "Mainstream" ist, wenn die Fangemeinde einer Band wächst und sie daraufhin ihr "Indie"-Label hinter sich lässt und bei einem "Major"-Label unterschreibt. Dies ist jedoch falsch. Es gibt nämlich auch "Major"-Indieskünstler - nämlich Bands, die einfach viel mehr Fans haben und viel mehr CDs und Konzertkarten verkaufen. Das Musiklabel PS COMPANY, Co, Ltd. existiert in zwei Versionen: Indies-PSC für Indieskünstler und PS COMPANY für Majorkünstler. Ein Künstler kann aber nur wirklich als "Mainstream" bezeichnet werden, wenn seine Musik einen solchen Beliebtheitsgrad erreicht, dass sie vom Massenmarkt konsumiert wird oder bei einem Mainstreamlabel wie Sony Music Entertainment oder Electric and Musical Industries Ltd. ("EMI") unter Vertrag ist.
X JAPAN sind zum Beispiel derzeit bei EMI und hierdurch vielen Japanern ein Begriff.
Ein weiterer Irrtum bezüglich der Beliebtheit von Visual Kei besteht darin, anzunehmen, dass Hallengröße gleichbedeutend mit Beliebtheit ist. Einige Visual Kei-Bands sind in sehr großen Hallen aufgetreten:
the GazettE haben beispielsweise im Dezember 2010 im Tokyo Dome gespielt, in dem 55.000 Personen Platz haben.
6 Die Halle war jedoch nicht voll. Andere Künstler, die früher der Visual Kei Szene zugerechnet wurden, wie
Gackt,
X JAPAN und
L’Arc~en~Ciel, haben alle ebenfalls in Stadien artigen Hallen gespielt, sowohl in Japan als auch im Ausland.
Die Mehrheit der Visual Kei-Künstler spielt jedoch in viel kleineren Hallen. Die größten unter ihnen sind das Shibuya AX mit einer Kapazität von 1.500 Personen
7, sowie das Shibuya O-East
8 und das Akasaka Blitz, die jeweils 1.300 Personen fassen.
9 Am anderen Ende des Spektrums befinden sich Hallen wie die Takadanobaba AREA, die 400 Personen fasst
10, und das Urawa Narciss, welches nur 250 Personen Platz bietet.
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Chartplatzierungen
Die Oricon Music Charts, das japanische Gegenstück der deutschen Media Control Charts, können ebenfalls Verwirrung unter Fans stiften, die nicht wissen, wie Oricon die Charts errechnet. Im Visual Kei-Bereich ermittelt Oricon Positionen sowohl von Indie- als auch Majorbands und diese werden von vielen Fans nicht nur als Messlatte für die Popularität einer Band, sondern auch für die Qualität der jeweiligen CD gesehen. Manche Fans kaufen nur solche CDs, die sich gut platzieren konnten. In Japan werden CDs oft in vielen verschiedenen Versionen verkauft, da einige Fans Sammler sind und dies den Profit erhöht.
Oricon zufolge werden die Verkaufszahlen der verschiedenen Versionen einer solchen CD zusammengerechnet, als handle es sich um eine einzige CD. Wenn ein Album in vier verschiedenen Versionen erscheint, können also insgesamt mehr Exemplare verkauft werden, als wenn es nur in einer Version erscheint. CDs, die in vier verschiedenen Versionen erscheinen, erreichen auf diese Weise höhere Chartpositionen und erscheinen somit beliebter, als sie eigentlich sind.
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Visual Kei als soziales Stigma
Als die Visual Kei-Band
Golden Bomber den ersten Platz der täglichen Nicht-Visual Oricon Albumcharts belegte, schien es, als hätten sie ein Mainstreampublikum erreicht.
13 Als die Band jedoch im japanischen Fernsehen in der Vormittagstalkshow "Hanamaru Market" erschien und als Spitzenreiter der Charts angekündigt wurde, schien klar zu sein, dass sie die Erwartungen der Moderatoren, wie eine solche Band auszusehen habe, nicht erfüllten.
Als die Bandmitglieder auf der Bühne erschienen, machten die Moderatoren zuerst Bemerkungen über ihr Makeup und ihre Kostüme und einer von ihnen rief: "erschreckend!" Nach dieser Einleitung wurden die Kommentare jedoch heiterer. Die Band selbst schien ihren Spaß zu haben und nahm sogar eine "dramatische" Pose ein, nachdem sie erklärten, dass sie Visual Kei seien. Als die Moderatoren jedoch untereinander die Oricon Charts besprachen, rief einer von ihnen aus: "Seid ihr wirklich die Nummer eins?!" Einer der Musiker antwortete darauf: "Ja, das ist wirklich unsere echte Chartposition."
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Auch wenn diese Band mit ihren Posen und wilden Performances keine typische Visual Kei-Band ist, schienen doch ihre visuellen Attribute den größten Anteil an der Behandlung zu haben, die sie in der Talkshow erfuhren.
Das soziale Stigma, dass Visual Kei als "minderwertige Art von Musik angesehen wird, hängt über der gesamten Szene und wurde im Lauf der Zeit von vielen Künstlern erwähnt.
ShuU von
girugamesh erklärte: "In Japan wird Visual Kei immer noch diskriminiert. Wenn du sagst 'ich spiele in einer Visual Kei-Band' bekommst du zur Antwort 'oh, ist schon OK...' Und wir wollen damit aufräumen."
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Ein japanischer Musiker, den wir
Mr. A* nennen werden, der auch Erfahrungen in der Visual Kei-Szene gesammelt hat, erklärte, dass er in den Anfängen, als er mit seiner Band in ein anderes Rock-Genre überzuwechseln versuchte, von anderen Bands verspottet wurde. Er war das einzige Bandmitglied, das noch Makeup trug, da er der Meinung war, dass es die Liveauftritte bereicherte, doch es war ihm peinlich, wenn andere Bands lachten und fragten, ob seine Band Visual Kei sei.
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*Anmerkung:
Mr. A hat darum gebeten, anonym zu bleiben.
Nicht selten werden Bands, die ihr Makeup und ihre extravaganten Kostüme ablegen wenn sie beliebter werden oder zu einem Majorlabel wechseln, von Fans in aller Welt kritisiert. Einige Künstler sehen diese visuellen Elemente jedoch als etwas, das ihre Band davon abhält, vom Mainstream akzeptiert zu werden. In einigen Fällen müssen Bands ihr visuelles Image aufgeben, wenn sie bei einem neuen Musiklabel unterschreiben. Andere halten dies für nötig, um zu wachsen und mehr Fans zu gewinnen.
17 Diese Meinung teilen jedoch nicht alle Künstler.
Mr. A sagte, dass er beobachtet hat, wie andere Bands viele Fans verloren nachdem sie ihr Styling abgelegt hatten. Seiner Meinung nach war der Grund dafür die Tatsache, dass die Konzerte nicht mehr so aufregend waren, nachdem sie ihren Glamour verloren hatten.
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Die finanziellen Ausgaben eines Visual Kei-Künstlers
Als die Visual Kei-Band
SHAZNA in Gemeinschaftsarbeit den Sachroman "Obdachloses Visual Kei" verfassten, war ihnen vermutlich nicht bewusst, dass dieser Titel später den Lifestyle vieler Musiker dieses Genres beschreiben würde. Der Roman beschrieb den Aufstieg der Mitglieder von
SHAZNA, ließ aber auch die Anstregungen nicht aus. Die Band beschrieb ihre ständigen Schulden bis hin zu geplünderten Sparkonten, das Leben an der Armutsgrenze und ihre umgekrempelten Privatleben, von Scheidungen bis zu der Tatsache, dass sie in mehreren Jobs gleichzeitig arbeiten mussten, um zu überleben. Ihre Geschichte ist kein Einzelfall - Visual Kei-Künstler überall in Japan haben in derart ärmlichen Umständen gelebt. Aufgrund des sozialen Stigmas, das Leuten mit wild gefärbten Haaren oder Piercings anhaftet, sind viele Musiker und andere Leute mit alternativen Lebensstilen dazu gezwungen, auf Bürojobs zu verzichten und stattdessen in Bars, Izakayas, 24-Stunden-Geschäften und Pachinkohallen zu arbeiten. Es ist auch nicht ungewöhnlich für Musiker, in Hostclubs zu arbeiten. Und obwohl viele Musiker "richtigen" Jobs wie beispielsweise Büroangestellter nachgehen, halten sie ihre andere "Identität" als Bandmitglied oft geheim.
Die finanzielle Seite von Visual Kei ist hart.
Mr. A erklärte: "Früher, als ich in einer Visual Kei-Band war, die getourt ist, haben wir pro Person vielleicht 50.000 oder 60.000 Yen* im Monat ausgegeben. Wir waren die halbe Zeit auf Achse und haben sieben bis acht Konzerte im Monat gespielt. Wir haben das Geld nie wieder reinbekommen. [...] Ich habe nicht so viel Geld für Makeup oder Klamotten ausgegeben wie manche anderen Leute. Mein teuerstes Kostüm hat 40.000 Yen* gekostet und ich habe es selbst genäht. Aber der Preis ändert sich wenn man seine Geräte reparieren oder den Tourbus überprüfen lassen muss oder andere unvorhergesehene Ausgaben hat."
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milkjamjuice, ein Sänger, dessen Bands zusammen mit Visual Kei-Bands aufgetreten sind und der anderen Künstlern bei ihren Visual Kei-Projekten geholfen hat, sagte: "[In einer Nicht-Visual Kei-Band] konnten wir nur selten unsere Konzertkosten decken. Ich bin nur ein paar Mal mit Geld in der Hand heimgegangen und es war ein sehr kleiner Betrag."
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*50.000 bis 60.000 Yen sind $620 bis $750/€430 bis €520. 40.000 Yen sind $490 oder €340.
Visual Kei-Künstler sind in den meisten Fällen für alle Kosten verantwortlich, die durch ihre Aktivitäten anfallen. Beim Konzertkartenvertrieb gibt es jedoch keine festgelegten Regeln und das Verfahren ändert sich aufgrund von verschiedenen Faktoren: ob es einen Sponsor gibt, wie viele Bands spielen und ob eine Konzertkartenagentur oder ein Promoter dabei hilft. In kleineren Hallen sind die Bands selbst für den Kartenverkauf verantwortlich.
Jimi Aoma erklärte, wie seiner Erfahrung nach der Kartenverkauf in japanischen Konzerthallen vor sich ging. "[Bei gesponsorten Events] mietet der Sponsor die Halle für den Tag, bringt eine Reihe Bands zusammen und dann bekommst du ab der 21ten Karte, die unter deinem Namen reserviert wurde, 50% zurück. Deshalb werden Fans beim Einlass immer gefragt, für welche Band sie gekommen sind."
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Das System der Auszahlung kann von Sponsor zu Sponsor unterschiedlich sein. "Manchmal ist der Sponsor einfach die Band, die Headliner ist, manchmal ist der Sponsor ein Veranstalter und manchmal ist der Sponsor ein Veranstalter, der in dieser bestimmten Konzerthalle arbeitet", erklärte
milkjamjuice, und fuhr fort, ein System namens "Noruma" zu beschreiben.
"Die ersten Karten sind eine Art Ziel und wenn du das erreicht hast, dann hast du Noruma erreicht. Ebenso wie sich die Auszahlung ändert, die von 1% bis 100% des Kartenpreises reichen kann, ändert sich auch die Anzahl der Karten, die man braucht, um Noruma zu erreichen, von Event zu Event. Ich habe auf Events gespielt, die 15 Karten als Noruma hatten, und anderen, die 30 Karten als Noruma hatten. Events mit mehreren Bands haben meistens ein niedrigeres Noruma pro Band, während Events mit weniger Bands eine höhere Schwelle haben."
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Bei Events ohne Sponsor ist das System wieder anders. In diesem Fall wird das Event direkt mit der Headlinerband organisiert, wie dies auch bei Onemans geschieht. Obwohl die einzelnen Bands auch hier Geld schulden, wird alles von dem Headliner anstatt dem Sponsor geregelt. Am Ende des Events wird das Geld von der Band an das Hallenmanagement weitergeleitet.
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In anderen Ländern kann das Kartensystem stark variieren.
Chele, ehemalige Kartenmanagerin eines kleinen Clubs in Virginia, beschrieb ihre Erfahrungen in den Vereinigten Staaten so, dass die Bands dafür verantwortlich waren, 50 Karten zu verkaufen, von denen jede im Durchschnitt $10* kostete. Jeder Künstler, der an diesem Abend auftrat, einschließlich dem Headliner, war dafür verantwortlich, die erforderliche Anzahl Karten zu verkaufen. Wenn die Bands nicht genug Karten verkauften, dann mussten sie alle entweder die Halle für diese Kosten aus eigener Tasche entschädigen oder darauf verzichten, aufzutreten. Wenn eine Band 50 Karten oder mehr verkaufte, erhielt sie die ersten $225* sowie 50% jeder zusätzlichen verkauften Karte.
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*$10 und $225 sind €6 und €150.
Auch
Roger, Eigentümer der Promotionfirma Tainted Reality in Pennsylvania, USA, beschrieb seine Erfahrungen mit Konzerthallen: Viele Clubs verlangten die ersten $500* und danach 20% aller weiteren Einnahmen. Tainted Reality behielt 15% dessen, was unterm Strich übrig blieb, nachdem der Club seinen Anteil erhalten hatte, und überließ den Rest der Band.
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*$500 sind €340.
In Europa läuft es wieder anders. JRock NL, ein holländischer Veranstalter, der Bands in die Niederlande holt, erklärte, dass sein Kartenvertrieb über die Hallen läuft, aber JRock NL den Kartenpreis festsetzt. Da JRock NL eine nicht-kommerzielle Organisation ist, wurde der Erlös aus dem Kartenverkauf dazu benutzt, alle nötigen Ausgaben zu decken, einschließlich einer Auftrittsgebühr.
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Letztendlich ist der Kartenvertrieb jedoch nur eine von vielen Ausgaben, die für einen Musiker anfallen. Neben Ausgaben für Touren, Werbung, Kostüme (die, je nach Komplexität, in die Tausende gehen können)
27, Studioaufnahmen und anderen Notwendigkeiten, um als Band zu funktionieren, haben auch Promotion und Magazinartikel ihren Preis.
Wenn man untersucht, wie Bands für japanische Visual Kei-Magazine ausgewählt werden, stellt sich heraus, dass manchmal das Magazin anbietet, die Band zu promoten, und manchmal die Anfrage, in das Magazin aufgenommen zu werden, direkt vom Musiklabel, dem Management oder der Band selbst kommt. In beiden Fällen fällt oft eine Gebühr an, damit das Magazin "Werbung" für die Band macht oder überhaupt über sie schreibt. Die Höhe der Gebühr hängt davon ab, wo genau in dem Magazin die Band auftaucht, und von der Art der Promotion. Im Endeffekt kauft die Band Werbefläche, um ihren Namen unter die Leute zu bringen, und das Magazin tarnt dies als verschiedene Artikel. Dies sind beispielsweise Makeup-Tips, um den Look der Band nachzuahmen, oder detaillierte Berichte über ihre Kostüme oder privaten Kleidungsstil. Aus diesen Artikeln können Fans alles über ihre Lieblingskünstler, deren Makeup und Kleidungsmarken erfahren und die beteiligten Firmen und Künstler werden gleichzeitig promotet. Am teuesten ist dies, wenn die Band aufs Cover soll - die Gebühr hierfür kann leicht 300.000 bis 700.000 Yen* betragen. Aufgrund dieser Kosten sind die meisten Bands, über die in Visual Kei-Magazinen berichtet wird, bereits etablierte Künstler. Den Verlegern ist bewusst, dass Newcomer in der Szene Publicity brauchen, aber wenn sie nicht das nötige Kleingeld haben, um die Gebühren zu bezahlen, werden sie meistens ignoriert.
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300.000 bis 700.000 Yen sind $3.700 bis $8.660 oder €2.570 bis €5.999.
Dieses System beschränkt sich jedoch nicht auf die Visual Kei-Szene; es wird auch in anderen japanischen Magazinen benutzt und bei einigen Titeln sogar weltweit. Die Art und Weise, wie Magazine arbeiten, ist jedoch je nach Land, Kultur oder sogar dem Genre unterschiedlich. In manchen Teilen der Welt fallen ebenfalls Kosten an, um in einem Magazin oder auf dessen Titelseite zu erscheinen, doch diese sind weitreichender als eine "Werbegebühr": das Geld geht an die Fotografen, Friseure, Visagisten oder dient zur Deckung anderer Kosten. In den meisten Fällen kommt das Magazin selbst für die Kosten auf, manchmal aber auch das Musiklabel der Band.
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Überschreiten der Grenze zu den "Fans"
Viele Visual Kei-Künstler haben andere Wege gefunden, um Geld zu machen, statt mehrere Teilzeitjobs gleichzeitig zu arbeiten. Einige wohnen weiter zuhause bei ihren Eltern, um ihren Lebensstil zu finanzieren, während andere sich von ihren Ehefrauen oder Freundinnen aushalten lassen. In einigen Fällen sind Musiker zu einer Praktik namens "Mitsugu" übergegangen, was als "jemandem Geld geben (im Sinn einer Spende)" übersetzt werden kann.
30 Es handelt sich dabei nicht immer um Geld; einige Musiker erhalten alles von einfachen bis extravaganten Geschenken, angefangen von Designerschmuck bis zu Kleidung oder mehr. Ein Musiker kann viele verschiedene Mädchen haben, die Mitsugu betreiben. Der nächste Schritt ist "Mitsukano", was sich aus den Worten "Mitsugu" und "Kanojo"dem Wort für Freundin, zusammensetzt. Eine Mitsukano ist ein Mädchen, das einen Musiker für Rendezvous oder eine Beziehung bezhalt. Dies kann sehr teuer sein: in einigen Fällen kann das Mädchen für das Taschengeld oder die Miete des Musikers verantwortlich sein.
Bands, die Mitsugu betreiben, brechen auch eine andere Regel der Szene, die "Tsunagari"
31 genannt wird. Dies kann grob als "Verbindung" oder "Beziehung" übersetzt werden und bedeutet, die Grenze vom Fan zu einer Bekanntschaft oder Freundin eines Bandmitglieds zu überschreiten. Westliche Fans mag diese Regel überraschen, denn Freundschaften und sogar Beziehungen zwischen amerikanischen oder europäischen Musikern und ihren Fans sind keine Seltenheit. In der Visual Kei-Szene ist dies jedoch tabu. Viele japanische Fans brennen darauf, diese Linie zu überschreiten. Dies ist schwer, jedoch nicht unmöglich. Auf Klatschsites wie 2 Channel sind Tsunagari und Mitsugu oft heiße Themen und die Fans diskutieren, wie man um diese Grenzen herum kommt.
Uchiages, oder Trinkparties, sind ein weiterer Weg für eine Band, um ihre Fangemeinde zu vergrößern und Geld zu machen.
Mr. A zufolge wird selbst Bandmitgliedern, die sonst keinen Alkohol trinken, oft gesagt, dass sie das auf solchen Events tun müssen. Seiner Auffassung nach ist zu zeigen, dass man viel verträgt, eine Visual Kei-Tradition und deshalb veranstalten viele Visual Kei-Bands Uchiages, um schnelles Geld zu machen und zeigen, wie "cool" sie sind. Seine Band praktizierte dies zwar nicht, jedoch hatte er Freunde, die dies taten. Gewöhnlich veranstaltete die Band auf Wunsch ihres Labels ein Uchiage mit Fans und berechnete den Fans 5.000* Yen für ihre Getränke. In Wahrheit kosteten diese 4.000 Yen oder weniger und das Label steckte anschließend den Rest ein.
*4.000/5.000 Yen sind $50/62 und €34/42.
Mr. A erinnerte sich an einen Freund, der nicht gerne trank, und der an seinen freien Tagen zuhause trank, um zu versuchen, sich an den Geschmack zu gewöhnen. Wenn ein Bandmitglied sich jedoch standhaft weigerte, viel zu trinken, tranken die anderen Mitglieder oft seinen Anteil - auf diskrete Weise.
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Zusammenfassung
Selbst Leute, die in der Visual Kei-Szene arbeiten, wie Angestellte, Journalisten und die Bands selbst, lernen immer noch dazu. Es ist daher unmöglich, sämtliche Einzelheiten der Szene bis ins kleinste Detail zu beschreiben. Wie viele Dinge des Lebens, ändern sich die Geschäftspraktiken ständig und es steckt immer mehr dahinter, als man denkt.
Hoffentlich hat euch der zweite Teil unserer Artikelserie über globablisiertes Visual Kei Spaß gemacht. Im nächsten Teil werden wir uns mit dem Aufstieg des Visual Kei in Nord-, Zentral- und Südamerika beschäftigen.
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[1] “Visual Kei Artist ga Kaigai de Daininki no Riyuu”, Oricon Biz, 14. Oktober 2009.
[2] “Visual Kei”, zuletzt geändert am 3. März 2011.
[3] Jennifer Milioto Matsue “Making Music in Japan’s Underground: The Tokyo Hardcore Scene” (Routledge, 2008) 111-112
[4, 21] Jimi Aoma, Email-Interview mit der Autorin, 10. März 2011.
[5] Polina Kogan, Email-Interview mit der Autorin, 25. Mai 2011.
[6]“Tokyo Dome”, zuletzt geändert am 11. April 2011.
[7] “Shibuya AX”, zuletzt geändert am 2. März 2011.
[8] “About Shibuya-O”, zuletzt geändert 2011.
[9]“Akasaka Blitz Floor Map”, zuletzt geändert 2011.
[10] “Takadanobaba Area”, zuletzt geändert am 6. März 2009.
[11] “Live House Narciss”, zuletzt geändert 2011.
[12] “Ranking Oricon no Ongaku Sofuto (Single, Album) ni Tsuite,” Oricon, 2. März 2009.
[13] "Golden Bomber's New Album Ranking First on ORICON Charts!”, Music Japan+, 7.Januar 2011.
[14] Hanamaru Market, zuerst gesendet am 24. Januar 2011 von TBS.
[15] “Interview mit girugämesh”, JaME, 23. Mai 2009.
[16, 18, 19] Mr. A, Email-Interview mit der Autorin, 1. März 2011.
[17] Kiwamu, Starwave Records, Email-Interview mit der Autorin, 13. Februar 2011.
[20, 22, 23] Milkjamjuice, Email-Interview mit der Autorin, 19. April 2011.
[24] Chele, Email-Interview mit der Autorin, 25.Mai 2011.
[25] Roger, Email-Interview mit der Autorin, 17. Februar 2011.
[26] Jrock NL, Email-Interview mit der Autorin, 25. Mai 2011.
[27] “Order Made Mask Factory”, ID Japan, zuletzt geändert 2011.
[28] Anonymous, E-mail interview with author, March 12, 2011.
[29] Kathy Chee, Email-Interview mit der Autorin, 31. Mai 2011.
[30, 31] 2 Channel, 2011; Anonymous, Email-Interview mit der Autorin, 26. Mai 2011.